Atelier Sylvia Beyen

 

Es begab sich im Winter
                                                                                                                                                                        

Leises Schluchzen riss mich aus dem Schlaf. Ich drehte mich in meinem gemütlich warmen Bett auf die Seite und sah zum Fenster, dessen orangefarbene Gardinen durch das hereinfallende Morgenlicht hell leuchteten. Mein Blick wanderte zu dem kleinen hellen Eichentisch davor und dann über den hohen Schrank mit dem hübschen Blumenmuster in tiefem Blau. Nichts. Doch das Schluchzen war nicht zu überhören.
Verwundert setzte ich mich auf. Ich wohnte allein. Mein Haus stand auf einer Lichtung mitten in einem wunderschönen Buchenwald. Zwei Monate zuvor hatte ich es, bezaubert von dem Wald und seinem mystischen Flair, gekauft.
Es war eine Flucht gewesen, eine Flucht vor den lauten Geräuschen der Großstadt, die mich nicht schlafen ließen. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Meine Arbeit litt darunter.
Der Verlag bestand auf der pünktlichen Abgabe meines Manuskripts und ich hatte nur noch wenige Wochen Zeit es zu beenden.

Da wieder! „Schnief“ Verschlafen rieb ich mir die Augen. „Verdammt“, nuschelte ich laut vor mich hin. „Verdammt, was ist denn das?“ Ich schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in meine dicken Teddypantoffeln, die mir Ronny zum Abschied geschenkt hatte. „Die wirst du brauchen!“, hatte er voraus gesehen, „Du erfrierst mir sonst noch, so hoch oben.“
Ich lächelte, als ich an sein Gesicht dachte. Wenn er mich jetzt sehen könnte. Ich seufzte leise auf.
Ein Schniefen und der wieder einsetzende Klang des, schon zuvor gehörten Schluchzen, holte mich aus meinen Gedanken.
„Hallo?“ Rief ich laut. „Hallo, ist da jemand?“
Nichts! Kein Wort, keine einzige Silbe. Ich zweifelte an meinem Verstand. Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich dem Fenster, hoffend, dass darunter vor dem Haus jemand saß, der mir bestätigte, dass ich nicht verrückt war.
Zögernd zog ich die Gardine beiseite und sah hinaus. Doch nur der hohe Holzstapel war zu sehen, den mir der Förster noch vor dem Einzug neben die Eingangstüre geschichtet hatte.
Ich spitzte die Ohren und lauschte.
Ich hörte wie jemand die Luft stockend und geräuschvoll einsog und jammernd wieder ausstieß. „Hmjeijeijei.“
Jetzt ging ich methodisch vor. Das Geräusch kam auf jeden Fall aus der Richtung vom Fenster. Mein Blick glitt noch einmal über den Eichentisch mit den tiefen Astlöchern. Und da sah ich es! Neben dem Tisch auf dem Boden saß ein Ding etwa einen Unteram lang!
Sprachlos sah ich auf das rosa Geschöpf, welches mich mit großen, schwarzen, tränenüberströmten Knopfaugen ansah. Es ähnelte einer Schnecke, war dafür jedoch zu groß und hatte auch kein Schneckenhaus.
Ja, ich weiß, es gibt auch Nacktschnecken.
Aber dieses Ding war nicht nackt! Es hatte um den nach vorne gebeulten Bauch eine Hülle aus Baumrinde geschlungen und auf dem kugelförmigen Kopf einen spitz zulaufenden Hut aus grünen Waldmeisterblättern. Außerdem war es auf dem Rücken stark behaart.
Vier dünne, fast gebrechlich aussehende Beinchen stakten an beiden Seiten seines wuschelig behaarten Körpers hervor, wobei die vorderen zwei Beine kleine Hände aufwiesen, die aussahen, als wären sie aus den Enden winziger Zweige.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Entschuldige, wenn ich dich aufgeweckt habe“, stammelte es mit glockenklarer, etwas hallender Stimme von weiterem Schluchzen geschüttelt. „Das wollte ich wirklich nicht.“ Wieder schnäuzte es sich vernehmlich in ein Blatt.
Fassungslos starrte ich es an. Das Ding konnte sprechen!
„Vielleicht sollte ich mich vorstellen.“ Es nahm seinen Hut vom Kopf und nickte andeutungsweise in meine Richtung. Die beiden Fühler, die wie Spiralen unter dem Hut hervorsprangen und deren rot-blaue dicke Knollen rauf und runter wippten, entlockten mir den ersten Ton.
Ton wäre vielleicht zuviel gesagt. Es war eher ein Glucksen, das ganz hinten im Hals entstand und seinen Weg zu meinem vor Staunen geöffneten Mund suchte.
„Mein Name ist Rinnwald Büschelbert. Büschelbert aus der Familie der Wuschelbartbarden, die bekanntlich die schlauesten und wuscheligsten unter den Bartbarden sind“, sagte er nicht ohne einen gewissen Stolz. Während er sprach, schüttelte er seinen mit Fell bewachsenen, wuscheligen rosa Kopf. Es klingelte leise, als die knolligen Fühler gegeneinander stießen. Noch einmal schnäuzte er sich in ein frisches Blatt, das er unter der Rinde hervorgeholt hatte und sah mich dann erwartungsvoll an.
Mir wurde plötzlich bewusst, für wie unhöflich er mich halten musste.
„Arnoldina Salomea Meier”, stieß ich hervor, “aus dem Geschlecht der Menschen und nicht sonderlich stolz darauf.” Auch ich nickte in seine Richtung. Er betrachtete mich aufmerksam als erwartete er etwas Besonderes zu hören.
„Meine Freunde nennen mich Mea.“ Die Stille, die nun folgte, ermutigte mich. „Sag mal, warum hast du denn so Herz zerreißend geweint?“ Meine Stimme gehorchte wieder und so wollte ich all die Fragen stellen, die mir gerade in den Kopf schossen. Er kniff sein linkes Auge etwas zusammen. Ich konnte an seinem zerknautschten Gesicht erkennen, wie er mit sich haderte.
Aber dann sprudelte es aus ihm hervor.
„Ich hab die Zeitenblattbahn verpasst, was bedeutet, ich komme zu spät zum Schlüpfen.“ Verwirrt schaute ich ihn an. „Und wenn ich zu spät zum Schlüpfen komme, bekomme ich auch nicht den Orden der Wuschelträger! Und wenn ich den Orden nicht bekomme, dann kann ich nicht zum Oberwuschel! Und wenn ich nicht zum Oberwuschel kann, werde ich niemals ein Wuschelbartdrachentrainer.“
Wieder liefen ihm die Tränen in Sturzbächen aus den Augen.
Unbeholfen setzte ich mich auf den Boden. Meine Neugierde konnte ich kaum noch bezähmen. „Wuschelbartdrachen?“, fragte ich ihn, „es gibt hier Drachen?“ Es kam mir so unglaublich vor, dass ich zweifelnd lächelte.
Er zog laut die Nase hoch, steckte sein Taschenblatt weg und verschränkte die beiden kurzen Ärmchen vor seinem Bauch.
„Quatsch,“ raunzte er, seine Augen verdrehten sich dabei, „hier doch nicht.“
Über meine Unkenntnis den Kopf schüttelnd, erzählte er mir seine Geschichte. Ich schrieb sie auf um sie der Nachwelt zu erhalten, während die ersten dicken Schneeflocken draußen zur Erde fielen. Damit ich anderen Wuschelbartbarden das Schicksal von Rinnwald Büschelbert aus der Familie der Wuschelbartbarden, würde ersparen können.
Wenn ihr wollt könnt ihr sie hören. Allerdings nicht hier, nicht heute. Denn, ihr müsst wissen, sie birgt Geheimnisse und Gefahren, die nicht für jedes neugierige Ohr bestimmt sind.

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