Atelier Sylvia Beyen



Der wandernde Blätterhaufen

Luisa spielte wie so oft in ihrem Sandkasten im Garten. Nur heute war der Sand nicht so locker wie sonst. Er war fest und leicht feucht. Perfekt zum Kuchen backen, wie sie fand.
Mit den Gummistiefeln steckte sie im Sand und saß auf der hölzernen Umrandung.
„Luisa, komm bitte rein essen!“ Rief Renate laut über den dichten grünen Rasen herüber.
Nur ihr Lieblingsbaum stand zwischen ihr und ihrer Mutter und das große Rasenstück, welches sich über mehrere Meter vom Haus zum Sandkasten erstreckte. Der Baum, der im Frühjahr so wunderschön weiße Blüten trug und aus denen dann die leckeren Kirschen wuchsen, aus denen ihre Mutter immer Marmelade machte. Bei dem Gedanken schleckte sie sich mit der Zunge über die Lippen, dann knallte sie ihr Förmchen mit dem Sand darin auf den hölzernen Rand des Sandkastens und zog es ab. Richtig toll gelungen war der Kuchen in Form eines Ahornblattes.
„Ich komme Mami!“, Schrie Luisa und klopfte sich die Hände ab.
Hinter ihr raschelte es laut. Erschreckt drehte sich Luisa zu dem Haufen Blätter um, den ihre Mutter schon am Morgen mit dem Rechen zusammen geholt hatte. Aber das Geräusch war nicht mehr da. Sie lauschte noch während sie rückwärts, ihre Augen fest auf den Blätterhaufen gerichtet, zur Terrassentüre ging.
Schnell schloss sie die Tür hinter sich und schaute noch einmal zu dem Blätterhaufen. Aufgeregt rannte sie zu ihrer Mutter.
„Mama! Mama! Im Garten sind so merkwürdige Geräusche unter den Blättern. Da sind bestimmt die Kobolde und verstecken ihr Gold“
Luisas Mutter schaute ihre Tochter mit einem Lächeln an. Die blühende Fantasie ihrer Tochter hatte ihr schon so manche Geschichte beschert, deshalb war sie auch nicht sonderlich überrascht so etwas von ihr zu hören.
„Wie kommst du denn auf Kobolde mein Schatz?“
Die großen Augen ihrer Tochter glänzten vor Aufregung und sie wibbelte von einem Bein auf das andere.
„Mama“, sagte sie mit Nachdruck „Mama, das ist doch klar! Die Blätter sind doch nur ein bisschen aufgehäuft und da passt sonst niemand drunter.“ Sie rollte die Augen und schloss ihre Erklärung.
Das Lächeln von Renate wurde immer breiter.
„Luisa du könntest Recht haben, aber überzeugt bin ich noch nicht. Und nun geh dich waschen und zieh dir was sauberes an, das Essen wird sonst noch kalt.“
Luisa lief rasch die gewundene Treppe nach oben in ihr Zimmer. Hell strahlte die Herbstsonne durch die großen Fenster mit den hübschen rosa Gardinen. Sie holte ihren Hausanzug hervor und flitzte ins Badezimmer.
„Ich werde nachher auf die Lauer gehen, vielleicht kann ich ein Foto von einem Kobold machen, dann muss Mama mir glauben.“, Brummelte sie leise vor sich hin.
Sauber und frisch angezogen setzte sie sich kurze Zeit später an den Esstisch.
Verzückt dachte sie an das Abenteuer, was sie erwartete.
„Mama?“
„Hm?“ Renate sah kurz auf und legte ein Schnitzel auf Luisas Teller.
„Darf ich nachher noch etwas im Garten spielen? Und darf ich die Taschenlampe mitnehmen?“
Überrascht sah Renate Luisa an.
„Was willst du denn mit der Taschenlampe Spatz?“
„Ach Mama, nur so mit ihr spielen.“ Geheimnisvoll senkte sie ihre Stimme.
„Darf ich?“ Hoffnungsvoll sah sie ihre Mutter an.
„Ja, aber nimm die kleine Lampe aus der Kommode im Flur und nun wird gegessen.“
Sie unterhielten sich über das bevorstehende Laternenfest, für dass Luisa eine wunderschöne Laterne gebastelt hatte. Der Leuchtstab vom letzten Jahr lag noch auf dem Dachboden. Jetzt fehlten nur die Batterien und die wollten sie am nächsten Tag gemeinsam besorgen.
Immer, wenn Luisa ihre Laterne sah, kribbelte es in ihrem Bauch. Nachts träumte sie sogar vom Laternenumzug mit ihrer Kindergartengruppe. Nächstes Jahr würde sie schon zur Schule gehen. Es war eine sehr aufregende Zeit für Luisa und dann noch ein Kobold. Ihr Herz machte einen Sprung als sie an ihn dachte. Schnell schlang sie das Schnitzel und den Broccoli hinunter und sah ihre Mutter fragend an.
Doch diese schenkte ihr noch ein Glas Orangensaft ein und meinte dann ruhig:
„Der wird noch in kleinen Schlucken getrunken und dann darfst du aufstehen.“
Luisas Augen wurden ganz groß und sie zog ihre Stupsnase kraus.
„Och Mama!“, Aber sie fügte sich.
Endlich war es soweit. Luisa rannte wieder nach oben, zog sich die Straßensachen an und schnappte sich die Taschenlampe aus der Kommode. Den kleinen Fotoapparat hatte sie letztes Jahr zu Weihnachten bekommen und mit ihm hatte sie schon ganz viele wundervolle Fotos machen können.
Auf dem Weg nach draußen rief sie ihrer Mutter noch zu „Mama, sei bitte leise, wenn du in den Garten gehst, sonst verscheuchst du noch den Kobold!“ Das Lachen ihrer Mutter hörte sie schon nicht mehr, so fix hatte sie die Tür hinter sich zugezogen.
Der Sandkasten sollte ihr Spähplatz werden. Sie grub eine Kuhle in den Sand und hockte sich hinein. Dann stützte sie ihre Ellen auf den Holzrand und starrte auf den Blätterhaufen, der vorhin solch komische Geräusche von sich gegeben hatte.
Ihre Lippen zitterten und in ihrem Bauch grummelte es als hätte sie Hunger, dabei hatte sie doch gerade erst gegessen. Die Stille um sie herum nahm sie nur nebenbei wahr. Sie wagte sich kaum zu atmen oder mit den Wimpern zu zwinkern. Den Fotoapparat gezückt und auf den Haufen Blätter gerichtet harrte sie eine Weile aus. Und da! Ganz Plötzlich war nicht nur das Geräusch da. Der Blätterhaufen bewegte sich! Überrascht entfuhr ihr ein leises Quietschen. Und sie fing an zu fotografieren. Das leise Klicken hörte sich unnatürlich in der stillen Umgebung an. Es war als könnte sie die Luft schneiden vor lauter Spannung.
Und da war es wieder, der Blätterhaufen wanderte! Ungläubig schaute sie auf die Blätter. Das konnte doch nicht sein. Kobolde versteckten sich vielleicht darunter aber sie wanderten nicht mit ihnen umher. Aber sie irrte sich nicht. Der Blätterhaufen war schon mindestens einen Meter weiter gewandert bis sich Luisa wagte aus ihrer Kuhle heraus zu kommen. Sie wollte näher ran um zu sehen, wer da die Blätter mit sich schleppte.
Langsam, fast ängstlich schlich sie sich an die schönen roten und gelben Blätter heran. Auch ein paar braune waren darunter, aber die beachtete sie gar nicht. Vielleicht war in den roten und gelben Blättern ja noch Leben und sie wanderten von allein um wieder auf den Baum zu kommen?
Ihre Gedanken überschlugen sich und ihr Herz klopfte laut und schnell.
Leise knackte ein kleiner Ast unter ihren Schuhen und der Blätterhaufen blieb ganz still. Es rührte sich nichts!
Luisa hatte schon Sorge dass sie die Blätter verschreckt haben könnte und sie nicht mehr zu dem Baum kamen. Also nahm sie sich ein Herz und griff vollen Mutes zu. Sie wollte die Blätter an den Stamm des Baumes legen, damit sie schneller an ihren Platz kamen. Aber die Blätter stoben zur Seite als wollten sie vor ihr weglaufen. Luisa redete leise auf sie ein.
„Ich will euch nichts tun, ehrlich. Ich bringe euch nur zu dem Stamm und dann könnt ihr euch wieder auf euren Platz hängen.“ Fast zärtlich sprach sie die Worte und bückte sich dabei nach unten. Als sie ein oberes Blatt streichelte, riss eine kleine Windböe den oberen Teil der Blätter herunter und sie sah zwischen den untersten Blättern einen kleinen, schwarzen ganz runden Knopf der sich hin und her bewegte. Staunend kniete sie sich hin.
„Was ist denn das?“ Murmelte sie zu sich selbst. „Knöpfe können sich doch nicht bewegen?“ Und schon dachte sie wieder an einen Kobold aber sie hatte noch nie von Kobolden gehört, die kleine, runde und auch noch schwarze Nasen besaßen. Sie strich noch ein paar der Blätter beiseite und sah mit Staunen was sich darunter verbarg. Es war weder ein Kobold noch konnten sich die Blätter bewegen. Es war eine kleine Igelfamilie, die sich unter den schützenden Blättern versteckt hatte und die sie durch ihre Stacheln beim weiterlaufen mitgenommen hatte. Luisa holte schnell die Kamera hervor und knipste ganz viele Fotos von den Igeln. Eine Igelmama, ein Igelpapa und ein Igelkind.
Glücklich lief sie zu ihrer Mutter.
„Mama, Mama! Da sind Igel in unserem Garten. Es war doch kein Kobold, es war eine Igelfamilie.“ Renate öffnete die Terrassentür und Luisa stürzte in ihre Arme.
„Mama, ich habe super viele Fotos gemacht, können wir die ganz schnell entwickeln lassen?“ Aufgeregt sprang Luisa auf der Terrasse herum.
„Schau doch mal dahinten!“ Mit jedem Wort hüpfte sie auf eine andere Bodenplatte. Ihre kleine Hand zeigte in die Richtung des Blätterhaufens, in dem es heftig raschelte.
Renate tat ihrer Tochter den Gefallen und schlüpfte in ihre Gartenschuhe.
Gemeinsam sahen sie sich die kleine Igelfamilie an und die Fotos wurden kurze Zeit später im Schnellservice entwickelt.
Wunderschöne Aufnahmen konnte Luisa mit in den Kindergarten nehmen, die sie natürlich ganz stolz allen Kindern und den Erzieherinnen zeigte.
Ganz klar, sie schmückte alles ein bisschen aus. Selbst ein Kobold kam in ihrer Geschichte vor. Sie nannte sie: Der wandernde Blätterhaufen

                                                                                                                                                                        

Das Copyright © auf diesen Seiten liegt bei der Künstlerin Sylvia Beyen  |  atelier@sylviab.de